BRIEFING PAPER
Tabak
Covid-19-Pandemie und Tabakkonsum:
Lagebeurteilung, Szenarien und Empfehlungen
Veröffentlichung: 18. August 2020
Das Wichtigste in Kürze
- Die Auswirkungen der Pandemie auf die individuellen Tabakgewohnheiten und das Ausmass des Tabakkonsums allgemein werden wahrscheinlich – in Abhängigkeit von den ergriffenen Massnahmen und den tatsächlichen wirtschaftlichen Konsequenzen auf nationaler Ebene – von einem Land zum anderen variieren.
- Bestimmte regelmässig Rauchende könnten ihren Tabakkonsum angesichts eines weniger strukturierten Alltags mit zugleich reduzierter sozialer Kontrolle der Rauchgewohnheiten gesteigert haben.
- Im Hinblick auf die Auswirkungen des Rauchens betreffend medizinische Komplikationen im Ansteckungsfall ist bei bestimmten Rauchergruppen möglicherweise ebenfalls eine Zunahme der Rauchstopp-Versuche zu beobachten.
- Ebenso könnte es während des Lockdowns und sogar noch danach einen Verzögerungs- oder Vorbeugungseffekt bei bestimmten jungen Nichtrauchenden gegeben haben, die somit später oder gar nicht mit dem Rauchen angefangen haben.
- Die soziale Isolation wiederum hat womöglich die auftretenden Stressmechanismen verstärkt und damit das Rückfallrisiko bei ehemaligen Rauchenden gesteigert.
- Auch bei den in der Gesundheitskrise an vorderster Front exponierten Personen – z.B. Personal in Pflege-, Dienstleistungs- oder Verkaufsberufen, bei denen Social-Distancing-Massnahmen schwierig einzuhalten waren – könnte es eine Zunahme des Tabakkonsums oder vermehrte Einstiege/Wiedereinstiege im Zusammenhang mit den erlebten Stresssituationen geben.
- Die Wirtschaftskrise als Folge der Gesundheitskrise könnte eine Zunahme des Tabakkonsums bei den am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen zur Folge haben.
- Das Unterstützungsangebot für die Rauchentwöhnung musste angepasst werden und es ist wichtig, dass nun eine Auseinandersetzung mit den Konsequenzen dieser Anpassung und den im Fall einer zweiten Pandemiewelle zu ergreifenden Massnahmen erfolgt. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass ein solches Ereignis bei bestimmten Rauchenden eine echte Ausstiegschance aus der Tabaksucht darstellt.
COVID-19: eine gesundheitliche, soziale und ökonomische Krise mit vielfältigen und vielschichtigen potenziellen Konsequenzen für die Rauchenden
Im Laufe der ersten Pandemiemonate wichen die von den Regierungen ergriffenen Massnahmen mitunter erheblich voneinander ab und die nationalen Gesundheitssysteme waren mehr oder weniger stark beansprucht. Somit gab es sowohl bei den erlebten bzw. auferlegten Massnahmen für die Bevölkerung – von einem langen und strikten vollständigen Lockdown bis hin zu einfachen Social-Distancing-Massnahmen in bestimmten Kontexten – als auch bei den sozioökonomischen Auswirkungen der Krise signifikante Abweichungen. Dementsprechend sind die ersten in der wissenschaftlichen Literatur oder den Medien veröffentlichten Daten mit spezifischen Kontexten assoziiert und nicht immer auf den schweizerischen Kontext übertragbar.
Es wurden unterschiedliche und teils widerstreitende Hypothesen betreffend die Auswirkungen der Gesundheitskrise auf das Verhalten der Rauchenden (z.B. das Konsumniveau), ihre Absichten und Herangehensweisen an die Rauchentwöhnung sowie die Rückfallrisiken von ehemaligen Rauchenden aufgestellt. Diese Hypothesen und Fragestellungen wurden in verschiedenen Übersichtsarbeiten gebündelt[1, 2].
Einige Experten meinen, dass die soziale Isolation Stressmechanismen kurzfristig verstärkt, die psychische Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigt und damit korrelierend das Rückfallrisiko bei ehemaligen Rauchenden steigern könnte[1, 2]. Manche Experten sprechen ebenfalls von einem Anstieg des Tabakkonsums bei bestimmten Raucherkategorien[1]. In der Zusammenschau lassen diese beiden Annahmen selbst für die aktivsten Länder im Kampf gegen das Rauchen (wozu die Schweiz nicht gehört) befürchten, dass die Fortschritte der letzten Jahre hierdurch massiv ausgebremst werden.
Einige internationale Daten
In Frankreich berichteten die Medien für die ersten Krisenmonate über einen stark gestiegenen Absatz bei den Tabakprodukten, und zwar von ungefähr 30% gemäss ersten Schätzungen[3]. Ein Teil dieses Anstiegs stand allerdings im Zusammenhang mit dem plötzlichen Unterbruch der grenzüberschreitenden Einkaufsmöglichkeiten und mit Hamsterkäufen. Die ersten von der staatlichen Gesundheitsagentur «Santé Publique France» veröffentlichten Zahlen, die auf einer Erhebung bei der Allgemeinbevölkerung[4] basieren, offenbaren wiederum, dass ein Viertel der Rauchenden den Tabakkonsum während des Lockdowns gesteigert, 20% diesen hingegen gesenkt haben sollen.
Andere jüngst veröffentlichte Daten aus nicht repräsentativen Erhebungen in anderen Ländern[5, 6], von denen einige möglicherweise direkt oder indirekt durch die Industrie initiiert worden waren[6], legen einen Rückgang des Konsums von brennbaren Tabakprodukten bei bestimmten Rauchenden nahe. Aus diesen Umfragen geht jedoch ebenfalls – und in ungefähr gleichem Ausmass – eine Zunahme des Tabakkonsums bei bestimmten Rauchenden hervor, womit zumindest für gewisse Kontexte ein fortgesetzter Status quo vorhergesagt werden kann[5]. Teils wird auch von Effekten bei ehemaligen Rauchenden berichtet, insbesondere in einer italienischen Studie. Obwohl dieser Studie zufolge bei den teilnehmenden Rauchenden insgesamt während des Lockdowns ein geringfügiger Rückgang des traditionellen Zigarettenkonsums zu verzeichnen war, kam bei ungefähr einem Drittel der befragten ehemaligen Rauchenden der Gedanke auf, wieder mit dem Rauchen anzufangen[7]. Ersten Schätzungen in Grossbritannien – einem durch die Gesundheitskrise besonders stark betroffenen Land – wiederum zeigen seit dem Beginn der Pandemie, dass Rauchende vermehrt mit dem Rauchen aufhören[8].
Psychologische Auswirkungen der Pandemie und Konsequenzen einer Wirtschaftskrise
Die dokumentierten Effekte der Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf das Verhalten von Rauchenden sind weniger eindeutig[13]. Die Literatur zu den Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrisen, wie der globalen Krise von 2007 bis 2009 als Folge der Subprime-Krise, unterstreicht zumindest das kurzfristige Risiko einer Zunahme des Tabakkonsums in den betroffenen Ländern, und dies in stärkerem Mass bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen[14]. So hat eine amerikanische Studie gezeigt, dass diese Krise, obwohl sie nur geringe Auswirkungen auf den Tabakkonsum allgemein gehabt zu haben scheint, dennoch zu einem Anstieg der Raucherzahlen bei den Arbeitslosen geführt hat, der allerdings durch einen Rückgang bei den Beschäftigten kompensiert wurde[13]. Die jüngsten «nationalen» Wirtschaftskrisen wie etwa in Griechenland oder Island wiederum waren mit erheblichen Rückgängen beim Tabakkonsum assoziiert. Der allgemeine Kaufkraftverlust und stärker noch der effektive Preisanstieg bei Tabakprodukten scheinen die Triebfedern der beobachteten Trends während der Krisen in diesen beiden Ländern gewesen zu sein[15, 16]. Dies legt ebenfalls nahe, dass Wirtschaftskrisen ein bedeutendes Potenzial in puncto öffentlicher Gesundheit aufweisen können, wenn neue und insbesondere preisbezogene Massnahmen im Kampf gegen den Tabakkonsum genau in einem solchen Zeitpunkt ergriffen werden.
[1] Da die Fortschritte im Kampf gegen den Tabak sich in den letzten Jahrzehnten signifikant beschleunigt hatten, wird hier bevorzugt ein eingeschränkter zeitlicher Horizont betrachtet.
Einige Hypothesen zu den Tabakgewohnheiten in der Schweiz
Anderseits könnten die Massnahmen zur Eindämmung des Virus manche Rauchende auch zu vermehrtem Konsum veranlasst haben. Dies gilt insbesondere für regelmässig Rauchende, die ihren Tabakkonsum bei einem weniger strukturierten Alltag und verminderter sozialer Kontrolle aufgrund der Arbeit im Homeoffice oder aufgrund von Arbeitslosigkeit signifikant gesteigert haben könnten. Auch bei den in der Krise direkt exponierten Personen – z.B. Personal in Pflege-, Dienstleistungs- oder Verkaufsberufen, bei denen Social-Distancing-Massnahmen schwierig einzuhalten waren – könnte es eine Zunahme des Tabakkonsums oder vermehrte Einstiege/Wiedereinstiege im Zusammenhang mit erlebten Stresssituationen gegeben haben.
Schlussendlich ist es während des Lockdowns für bestimmte Personen (z.B. Kinder) möglicherweise zu einer signifikant erhöhten Exposition für Passivrauch gekommen. Dies könnte mittelfristig gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, vor allem wenn sich die Konsumgewohnheiten innerhalb der Haushalte verschlechtert haben. Dieser Fragestellung sollten Gesundheits- und Bildungsfachkräfte ein besonderes Augenmerk zukommen lassen.
[2] Insbesondere über Automaten, die quasi in allen Einrichtungen wie Cafés, Bars usw., die geschlossen worden waren, zur Verfügung stehen.
Anpassung des Unterstützungsangebots
Klinische Fragestellungen
Die Frage wiederum, welche Auswirkungen der Wissensstand[4] der Bevölkerung über die Risiken des Rauchens im Ansteckungsfall auf das Rauchverhalten und insbesondere den Einstieg in das Rauchen haben, bleibt unbeantwortet. Hierbei ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass die Diskussion über die Förderung von Alternativprodukten zur traditionellen Zigarette wie etwa E-Zigaretten und über die Hypothesen betreffend die Entwicklung des Konsums solcher Alternativprodukte (insbesondere im Rahmen einer dualen Nutzung) seit Beginn der Gesundheitskrise durch erhebliche Unschärfen gekennzeichnet ist.
[3] Die Arbeitsgemeinschaft zieht basierend auf diesem Literaturüberblick (Review) zu den klinischen Belegen und/oder zukunftsgerichteten Erwägungen über den Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und COVID-19 im Wesentlichen 4 Schlussfolgerungen:
- Der Schweregrad einer COVID-19-Erkrankung hängt in grossem Masse von der Lungenfunktion ab.
- Alle gerauchten und inhalierten Produkte beeinträchtigen in irgendeiner Weise die Lungenfunktion (in unterschiedlichem Masse). Im besonderen Kontext von COVID-19 ist die relative Toxizität der verschiedenen Produkte noch nicht bekannt.
- Forschungsarbeiten, mit denen versucht wird zu belegen, dass ENDS- und/oder THP-Produkte keine Auswirkungen auf den COVID-19-Verlauf haben sollen oder wonach Nikotin sogar einen «schützenden» Effekt haben könnte, sind mit allergrösster Vorsicht zu behandeln, da bislang keinerlei wissenschaftlicher Nachweis für solche Behauptungen vorliegt.
- Zur Prävention und Bekämpfung von Infektionen (einschliesslich COVID-19), welche die Lungenfunktion beeinträchtigen, müsste das Hauptziel für alle darin bestehen, vollständig mit dem Rauchen bzw. dem Vapen aufzuhören.
[4] «health literacy» oder «Gesundheitskompetenz».
Beobachten und verstehen
Bibliografie
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https://www.lefigaro.fr/conso/les-ventes-de-tabac-ont-explose-depuis-le-debut-du-confinement-20200403 - https://www.santepubliquefrance.fr/etudes-et-enquetes/covid-19-une-enquete-pour-suivre-l-evolution-des-comportements-et-de-la-sante-mentale-pendant-l-epidemie
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- Factsheet: COVID-19 and Smoking: ongoing rapid assessment of the available evidence
https://portal.at-schweiz.ch/de/fakten/gesundheit/covid-19-und-rauchen