BRIEFING PAPER
Internetnutzung
Bildschirm- und Internetnutzung in der Covid-19-Pandemie: Lagebeurteilung, Szenarien und Empfehlungen
Veröffentlichung: 14. Mai 2020
Das Wichtigste in Kürze
- Mit den Abstandsregeln und dem Lockdown sind viele Online-Aktivitäten unerlässlich geworden, die zuvor eher aus Bequemlichkeit erfolgten. Online-Unterhaltungsangebote haben zahlreiche Freizeitaktivitäten ausser Haus abgelöst.
- Diese Entwicklung könnte gewisse Unterschiede in der Bevölkerung abbauen, insbesondere wenn diejenigen Gruppen vermehrt auf Online-Aktivitäten zurückgreifen, die es bislang am wenigsten getan haben.
- In der Schweiz wurde vor der Pandemie der Anteil der Personen ab 15 Jahren mit einer problematischen Nutzung des Internets allgemein oder spezifischer Online-Aktivitäten auf 1 bis 4 Prozent geschätzt. Als Symptome zeigen sich u.a. der Vorrang der Online-Aktivitäten vor anderen Interessen und Pflichten und die fortgesetzte Nutzung trotz offensichtlich negativer Konsequenzen.
- Der Lockdown und das mit Ängsten behaftete gesundheitliche Umfeld könnten jene Motive fördern, die ein besonderes Gefährdungspotenzial haben. Dazu zählen die Nutzung des Internets als Flucht vor Alltagsproblemen und Sorgen.
- Die Ausnahmesituation brachte es mit sich, kaum andere (Offline-)Aktivitäten organisieren zu können. Auch beschränkte Nutzungszeiten festzusetzen, kann erschwert sein.
- Die Früherkennung der Anzeichen (z. B. Zunahme der online verbrachten Zeit zusammen mit Rückzugsverhalten und Interessenverlust für andere Alltagsaktivitäten) wird erschwert, weil sich diese mit den Folgen der ausserordentlichen Lage vermischen können.
- Wenn Einschränkungen länger andauern oder sich wiederholen sollten, liegt die Hypothese nah, dass die Prävalenz der problematischen Nutzung zunehmen wird. Doch wie vor der Pandemie werden die meisten Internet-User ihre Nutzung im Griff behalten. Nur ein kleiner Teil von ihnen könnte in problematische Nutzungsweisen abgleiten, wobei die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufs gering ist.
- Generell mussten die Betreuungsangebote, die sich mit dieser Problematik befassen, ihr Angebot reorganisieren, insbesondere mit einer Umlagerung der Beratung von Präsenzgesprächen zu Telekonsultationen via Audio- und Videokonferenz.
- Es gilt, die Bildschirm- und Internetnutzung sowie der dadurch ermöglichten Aktivitäten aufmerksam zu beobachten und Daten zusammenzutragen, mit denen die weitere Prävalenzentwicklung der problematischen Nutzung in der Bevölkerung verfolgt werden können.
Wenn das Internet absolut unerlässlich wird
Mit den von den Behörden verfügten Schutzmassnahmen zur Eindämmung von Covid-19 (oder SARS-CoV-2) wurden zahlreiche Aktivitäten, die bislang zumeist aus Bequemlichkeit ausgeübt wurden, für viele unerlässlich. Ohne sie wären beispielsweise soziale Kontakte (Chats, soziale Medien, Videochat) oder die Arbeit (Telearbeit) und Ausbildung (Homeschooling, E-Learning) gar nicht mehr möglich gewesen. In der Freizeit haben Online-Unterhaltungsangebote (Filme, Serien, Games, Glücksspiele usw.) zahlreiche Aktivitäten ausser Haus abgelöst oder dienten dem Zeitvertrieb in Mussestunden. Dies brachte manche Personen von einem Tag auf den anderen dazu, sich gezwungenermassen für Online-Aktivitäten zu interessieren und sich mit Technologien vertraut zu machen, die sie zuvor nicht nutzten.
Es ist davon auszugehen, dass Häufigkeit und Dauer der Internet- und allgemein der Bildschirmnutzung im Zuge der schrittweisen Lockerung der Schutzmassnahmen wieder abnehmen. Sollten die Massnahmen erneut verschärft werden, wäre allerdings mit einer weiteren Zunahme zu rechnen. Dies erwarten namentlich die Online-Videoplattformen, die kürzlich via Medien eine (laut ihnen vorübergehende) Zunahme der Videoaufrufe und der Abonnemente gemeldet haben.
Ungeachtet davon könnte der neue Stellenwert des Internets im Alltag gewisse Unterschiede in der Bevölkerung abbauen, wenn gerade diejenigen Gruppen sie vermehrt nutzen, die es bislang am wenigsten getan haben. Doch lässt sich heute nicht abschliessend beurteilen, ob die Verhaltensänderungen, welche die Corona-Pandemie ausgelöst hat, die Gewohnheiten und das Nutzungsverhalten auch auf lange Frist beeinflussen werden. Jedenfalls dürfte die vermehrte Verwendung eines breiteren Online-Angebots zu einer grösseren digitalen Kompetenz in der Bevölkerung führen, u.a. bei Personen, die sich die digitalen Instrumente bislang kaum oder gar nicht angeeignet hatten. Dies würde zu einem gewissen Abbau des digitalen Grabens zwischen Jung und Alt führen.(3)
Entwicklung der Probleme
Mit der grösseren Präsenz des Internets im Alltag stellt sich die Frage, inwiefern sich dies längerfristig auf die Prävalenz der problematischen Nutzung und deren möglichen negativen Folgen auf psychisch-emotionaler, beziehungsmässig-sozialer, körperlicher und schulisch-beruflicher Ebene auswirken wird, möglicherweise auch in Bevölkerungsgruppen, die bislang kaum (oder gar nicht) online und deshalb auch kaum (oder gar nicht) betroffen waren. Die Probleme könnten dabei im Zusammenhang mit der Internetnutzung allgemein auftreten oder, was häufiger beobachtet wird, im Zusammenhang mit spezifischen Inhalten, die aktuell als besonders gefährdend gelten, weil sie das Belohnungszentrum im Gehirn ansprechen. Dazu gehören: Games[1] (insb. MMORPG[2] und Spiele mit «Lootbox»[3] oder anderen Mikrotransaktionen), Geldspiele (dazu mehr im nächsten Briefing Paper), Online-Pornografie und «Cybersex», Online-Shopping, soziale Medien, virtuelle Beziehungen usw.(6)
Auch die extensive Ausprägung des «Binge Watching», das massenhafte Schauen von TV-Serien, könnte problematisch sein. Laut aktuellem Kenntnisstand ist das «Binge Watching» aber nicht unbedingt pathologisch zu werten und beruht offenbar oft auf anderen psychologischen Mechanismen als die genannten Aktivitäten.(7)
Wenn das Kriterium der online verbrachten Zeit alleine nicht ausreicht, um von einer problematischen Nutzung zu sprechen, stellt sich die Frage, welche anderen Faktoren im Umfeld der Covid-19-Pandemie eine gesteigerte Prävalenz begründen oder entkräften. Der Ausbruch des SARS-CoV-1-Virus in den Jahren 2002 und 2003 lässt kaum Rückschlüsse zu, weil das Phänomen zu dieser Zeit noch kaum untersucht wurde und sich die digitalen Technologien seither stark weiterentwickelt haben.
Folgende Deutungsansätze stehen mit dem heutigen Kenntnisstand zur Diskussion: In erster Linie könnten der Lockdown und das mit Ängsten behaftete gesundheitliche Umfeld gewisse als besonders gefährdend erachtete Motive fördern, insbesondere die Nutzung des Internets als Flucht vor praktischen Alltagsproblemen und vor emotionalen Schwierigkeiten. Die Realitätsflucht kann zwar zeitweise den psychischen Stress verringern, doch stellt diese Motivation einen Risikofaktor für eine problematische Nutzung dar.
Ferner sind wohl gewisse Strategien im Hinblick auf eine reduzierte Internetnutzung, welche einer problematischen Nutzung vorbeugen, im Ausnahmezustand nur schwer umzusetzen. Attraktive Offline-Aktivitäten lassen sich kaum durchführen. Auch die Nutzungszeiten für sich selbst oder die Kinder zu beschränken, ist dadurch erschwert, dass gewisse Online-Aktivitäten zwingend geworden sind. Hingegen dürfte die elterliche Kontrolle der Online-Aktivitäten ihrer Sprösslinge einfacher sein, weil die Kinder sich weniger mit Gleichaltrigen treffen.
Unter normalen Umständen zählen die Zunahme der online verbrachten Zeit zusammen mit Rückzugsverhalten sowie Interessenverlust an anderen Alltagsaktivitäten zu den wichtigsten Zeichen einer problematischen Nutzung. Sie sind ernst zu nehmen und sollten früh erkannt werden. Im Zuge der Pandemie ist die Erkennung solcher Zeichen schwieriger, weil sie sich mit deren Folgen vermischen können.
Aufgrund der hier genannten Aspekte scheint es eine glaubwürdige Hypothese, dass die Prävalenz der problematischen Nutzung zunehmen wird, wenn die besonderen Umstände dieses Frühlings länger andauern oder sich wiederholen sollten. Doch wie vor der Pandemie werden die meisten Internet-User ihre Nutzung im Griff behalten. Nur ein kleiner Teil entwickelt möglicherweise eine problematische Nutzung. Klinische Beobachtungen zeigen überdies, dass diese oft nur vorübergehend und kontextabhängig ist und dass es nur bei wenigen Menschen zu einer chronischen Ausprägung kommt.
[1] Die neue Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) enthält die Online- und Offline-Spielsucht («Gaming Disorder»). Sie wird definiert als ein Verhalten im Umgang mit Video- oder Computerspielen, das sich durch Kontrollverlust, Vorrangstellung des Spiels, die andere Interessen und Alltagsbetätigungen verdrängt, sowie die weitere, gesteigerte Nutzung trotz schädlicher Folgen auszeichnet. Gegenwärtig besteht keine international anerkannte Diagnose für spezifische Online-Aktivitäten oder für das Internet allgemein.
[2] Massively Multiplayer Online Role-Playing Game: Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel.
[3] Eine «Lootbox» (oder Beuteboxe) ist ein virtueller Gegenstand, der dem Spieler oder der Spielerin Vorteile und ein schnelleres Fortschreiten im Spiel ermöglicht. Der Gegenstand kann gratis oder (i. A. billig) gekauft werden.
Entwicklung der Betreuungsangebote
Vor der Pandemie handelte es sich bei den wegen Internet- und speziell Gaming-Problemen behandelten Personen hauptsächlich um Knaben und junge Männer.(8, 9)
Angesichts der Hypothese, wonach sich die sozialen Unterschiede bei der Internetnutzung angleichen, könnte sich dies künftig ändern. Es bleibt abzuwarten, ob in den Beratungen vermehrt Mädchen und junge Frauen erscheinen werden. Sie nahmen vor der Pandemie seltener Betreuungsangebote in Anspruch als die Knaben, obwohl sie ebenfalls grosse Internet-Nutzerinnen sind, gerade was den Austausch via soziale Medien anbelangt.
Zurzeit bestehen mit Ausnahme der Online-Glücksspiele keine Empfehlungen für die Behandlung einer problematischen Internetnutzung. In der Praxis sind die therapeutischen Ansätze oft vielfältig und sie werden kombiniert. In Anbetracht der oft jüngeren Klientel, nehmen Gruppen- und Familientherapien einen wichtigen Platz ein.(10) Diese könnten sich für Telekonsultationen aber als ungeeignet erweisen.
Die Ereignisse beobachten
Bibliografie
- Bundesamt für Statistik BFS (2019a). Internetzugang der Haushalte. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/informationsgesellschaft/gesamtindikatoren/haushalte-bevoelkerung/internetzugang-haushalte.assetdetail.11147455.html, eingesehen am 5. Mai 2020.
- Bundesamt für Statistik BFS (2019b). Internetnutzung. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/informationsgesellschaft/indikatoren/internetnutzung.assetdetail.12307275.html, eingesehen am 5. Mai 2020.
- Bundesamt für Statistik BFS (2018). Digitale Kompetenzen, Schutz der Privatsphäre und Online-Bildung: die Schweiz im internationalen Vergleich. BFS. Neuenburg.
- Marmet, S., Notari L., Gmel, G. (2015). Suchtmonitoring Schweiz – Themenheft Internetnutzung und problematische Internetnutzung in der Schweiz im Jahr 2015. Sucht Schweiz, Lausanne, Schweiz.
- Bundesamt für Statistik BFS (2019c). Problematische Internetnutzung. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.7586009.html, eingesehen am 5. Mai 2020.
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- Flayelle, M., Maurage, P., Karila, L. & Vögele, C. & Billieux, J. (2019). Overcoming the unitary exploration of binge-watching: A cluster analytical approach. Journal of Behavioural Addiction, 8(3): 586–602.
- Thorens, G. et al. (2014). Characteristics and treatment response of self-identified problematic Internet users in a behavioral addiction outpatient clinic. Journal of Behavioral Addictions, 3(1), 78–81.
- Maffli, E., Eichenberger, Y., Delgrande Jordan, M., Labhart, F., Gmel, G., Kretschmann, A. (2020). act-info Jahresbericht 2018: Suchtberatung und Suchtbehandlung in der Schweiz. Ergebnisse des Monitoringsystems. Bundesamt für Gesundheit BAG. Bern.
- Kuss, D. J. & Lopez-Fernandez, O. (2016). Internet addiction and problematic Internet use: A systematic review of clinical research. World Journal of Psychiatry, 6(1), 143-76.